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Schützen & Erhalten · Juni 2022 · Seite 34 RECHTSBERATUNG 13 Jahre Bauprozess sind zu lang! VerfGH Thüringen, Beschluss vom 06.10.2021 – VerfGH 7/21 GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; GVG §§ 198, 201; ThürVerf Art. 3 Abs. 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 2 14.02.2022 1. Die Fachgerichte sind verpflichtet, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Die Angemessenheit der Dauer eines Verfahrens ist stets nach den besonderen Umständen des einzel- nen Falls zu bestimmen. Es gibt kei- ne allgemeingültigen Zeitvorgaben. 2. Ein seit mehr als 13 Jahren anhän- giger Bauprozess dürfte den verfas- sungsrechtlichen Anforderungen an die Justizgewährung nicht gerecht werden. 3. Eine Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, wenn der Beschwerde- führer es versäumt hat, eine Klage auf angemessene Entschädigung für infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens erlittene Nachteile zu erheben. VerfGH Thüringen, Beschluss vom 06.10.2021 – VerfGH GG Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3; GVG §§ 198, 201; ThürVerf Art. 3 Abs. 2, Art. 44 Abs. 1 Satz 2 Problem/Sachverhalt: Über das Vermögen einer 2004 mit der Errichtung eines Einfamilienhauses beauftragten Firma wurde 2006 das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Insol- venzverwalter erhob 2008 Klage aus Werkvertrag gegen die Auftraggeber beim zuständigen Landgericht. Eine erste Verhandlung fand 2009 statt. Das Verfahren zog sich sodann über mehrere Jahre hin; 2018 rügten die Auftraggeber die überlange Verfahrensdauer und wandten sich in der Folge mehrfach an unterschiedliche Stellen mit der Bitte um Verfahrensbeschleunigung, auch aufgrund ihres fortgeschrittenen Lebensalters. Im März 2021 erhoben sie Verfassungsbeschwerde zum Verfas- sungsgerichtshof (VerfGH) und rügten die Verletzung ihres Justizgewährungs- anspruchs durch die aus ihrer Sicht überlange Dauer des immer noch nicht abgeschlossenen Verfahrens. Entscheidung: Ohne Erfolg! Die Verfassungsbeschwerde ist nach Ansicht des VerfGH unzulässig. Die Auftraggeber hätten es versäumt, beim zuständigen OLG eine Klage auf angemessene Entschädigung für infolge unangemessener Dauer eines Gerichts- verfahrens erlittene Nachteile gem. §198 Abs. 1, § 201 GVG zu erheben. Diese Regelungen seien zwar erst 2011 in Kraft getreten; sie fänden aber auch auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens bereits anhängige Verfahren Anwendung. Zur Frage der Verfahrensdauer hat der VerfGH gleichwohl ausgeführt, dass die Behandlung des Klageverfahrens durch das Landgericht den verfassungsrechtli- chen Anforderungen an die Justizgewäh- rung nicht gerecht werden dürfte. Das Rechtsstaatsprinzip gewährleiste einen wirkungsvollen Rechtsschutz. Daraus ergebe sich die Verpflichtung der Fachge- richte, Gerichtsverfahren in angemesse- ner Zeit zu einem Abschluss zu bringen. Es gebe zwar keine allgemeingültigen Zeitvorgaben; die Angemessenheit der Verfahrensdauer sei stets nach den besonderen Umständen des einzelnen Falls zu bestimmen. Relevant seien insbe- sondere die Art des Verfahrens und die Wichtigkeit der Sache für die Parteien, die Auswirkungen einer langen Verfah- rensdauer für die Beteiligten, die Schwie- rigkeit der Materie, das den Beteiligten zuzurechnende Verhalten sowie die ge- richtlich nicht zu beeinflussende Tätigkeit Dritter (z. B. der Sachverständigen). Die Gerichte hätten die Gesamtdauer des Verfahrens zu berücksichtigen und sich mit zunehmender Länge nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens zu bemühen. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe dürfte nicht hinnehmbar sein, dass das zivilgerichtliche Verfahren auch nach über 13 Jahren noch nicht abgeschlossen sei. Es sei nicht Aufgabe des VerfGH, den Fachgerichten be- stimmte Beschleunigungsmaßnahmen vorzuschreiben. Gleichwohl ließen sich Beispiele für ungenutzte Beschleuni- gungsmöglichkeiten feststellen; es falle etwa die verzögerte Weiterleitung von Schriftsätzen oder Gutachten auf. Praxishinweis: Vor der Inanspruchnahme verfassungs- gerichtlichen Rechtsschutzes gegen überlange Zivilprozesse sind zunächst alle fachgerichtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen. Zu denken ist – zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde – vor allem an die Geltendmachung von Entschä- digungsansprüchen aus § 198 Abs. 1, § 201 GVG. Die Ausführungen des VerfGH zur Bewertung der Verfahrens- dauer betonen zu Recht einerseits die Bedeutung der Umstände des Einzelfalls, zum anderen die mit wachsender Dauer stetig gesteigerte Beschleunigungspflicht der Fachgerichte. (© id Verlag)
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